von Armando Fernández Steinko
Veröffentlicht in Sozialismus (4) 2012
Der
Volksimmobilienkapitalismus ist zu Ende und damit die »Anpassung« (siehe
Bowles/Gintis[1])
der Mehrheit der populären Klassen an den Neoliberalismus. Was kommt jetzt? Dass
sich etwas ändern muss, ist selbstverständlich und auch in der Bevölkerung
weitgehend unstrittig. Dies drückt allerdings mehr Realismus denn
Konservatismus aus, wenn auch die Partido Popular (PP) dieses Gefühl dazu
nutzt, weitere Deregulierungen zu legitimieren. Die Furcht, dass in Spanien
Ähnliches passieren könnte wie in Griechenland, ist groß und Symptome gibt es
jetzt schon reichlich.
Katalonien 2010-2012
Die
Regierung der nationalistischen Konservativen praktiziert seit ihren Wahlsieg
im November 2010 eine radikale Politik des sozialen Kahlschlags, die alles
bisher Gesehene in den Schatten stellt. Die Ärzte haben angekündigt, dass sie
keine Verantwortung für die PatientInnen mehr übernehmen können, die wegen der
Kürzungen nicht rechtzeitig behandelt oder operiert werden. Mehr als 20
Gymnasien haben ernste Finanzierungsprobleme und können Strom und Heizung nicht
bezahlen. Die Argumente des katalanischen Wirtschaftsminister Andreu
Mas-Collel, einem Wirtschaftsmathematiker, der für seine Vorliebe für neoklassische
Modelle bekannt ist, gehen völlig an der Wirklichkeit vorbei. Die früher eher
auf Produktion orientierte katalanische Bourgeoisie, die die Linke traditionell
als potentiellen Alliierten gesehen hatte, um gegen reaktionäre Rentiers zu
kämpfen, pflegt heute rassistische und antidemokratische Vorurteile, die mit
ihrer aufgeklärten Vergangenheit unvereinbar sind. Damit ist auch teilweise das
fortschrittliche Element des peripheren Nationalismus dahin: Die Klassenfrage
setzt sich gegen die Identitätsfrage durch.
Madrid Februar 2012
Die
letzte »Reform« des Arbeitsmarkes tritt in Kraft. Wesentliche Teile des
Arbeitsrechts und das Prinzips der kollektiven Verhandlung werden amputiert.
Diese »Reform« ist eine Vertiefung der noch von Zapatero auf den Weg gebrachten
»neuen«Arbeitsmarktpolitik, die schon 2010 die Abfindungen bei Entlassungen
kürzte. Dennoch überschreitet die neue »Reform« alle roten Linien. Vor allem
klingt sie wie ein wörtliches Diktat der Unternehmerorganisationen und des
Internationalen Währungsfonds. Sie sieht eine weitere Lockerung des
Kündigungsschutzes vor, reduziert die Abfindungen bei Entlassungen (noch)
weiter und macht die einseitige Kündigung der Kollektivverträge möglich.
Cándido Méndez, der Generalsekretär der sozialistischen Gewerkschaft UGT:
»Spanien ist de facto ein unter Vormundschaft gestelltes Land.« Das Gesetz geht
so weit, dass ernsthaft die Frage diskutiert wird, ob es verfassungskonform
ist. Die Gewerkschaften riefen zu Demonstrationen und zum Generalstreik am 29
März auf. Die Bereitschaft der Bevölkerung sich dagegen zu wehren scheint gross
zu sein.
Andalusien, Februar 2012
Die
Gewerkschaften Comisiones Obreras und UGT kalkulieren, dass etwa 30.000
Arbeiter aus dem öffentlichen Bildungsbereich Andalusiens nach Inkrafttreten
des neuen Arbeitsgesetzes ihren Job verlieren könnten. Hier sind die
Stellenstreichungen noch nicht mit einbezogen, die aufgrund der Verlängerung
der wöchentlichen Arbeitszeiten um zwei Stunden möglich sind. Diese Entwicklung
wird das private Bildungswesen massiv fördern, das sich schon jetzt auf eine
Zunahme der privaten Nachfrage nach Sekundär- und Universitätsausbildung
vorbereitet. Beide Gewerkschaften rufen zu Demonstrationen auf und fordern alle
Parteien, die bei den Wahlen in Andalusien am 25. März antreten, auf, deutlich
zu sagen, was sie vorhaben.
Valencia,
Februar 2012
Hunderte
Gymnasiasten demonstrieren für mehr Lehrerpersonal, für geheizte Klassenzimmer
und gegen die Sparpolitik in der hochverschuldeten, seit Jahren von
Konservativen regierten Comunidad Valenciana. Minderjährige und Fußgänger
werden brutal verprügelt, der Polizeichef verteidigt den Rechtsstaat und
argumentiert mit Kriegsrethorik: Es sei darum gegangen, »Feinde zu besiegen«.
Am nächsten Tag fanden massive Solidaritätsdemonstrationen in mehren Städten
Spaniens und vor allem auch in Valencia statt, wo zum ersten Mal praktisch die
ganze Opposition gemeinsam auf der Strasse ging.
Das
besondere an der spanischen Situation ist die außerordentlich hohe
Arbeitslosigkeit. Auslandsverschuldung, Schuldenquote und Schuldendienst fallen
niedriger aus als in Griechenland oder Portugal, und sogar als in Deutschland.
Außerdem sind die Schulden zum größten Teil privat und nicht öffentlich. Ein
wesentlicher Prozentsatz der öffentlichen Ausgaben wird genutzt, um die
Arbeitslosigkeit sozial abzufedern. Deshalb, und weil die öffentlichen Ausgaben
insgesamt sehr niedrig sind, fallen die Aufwendungen für Sozialhilfe sehr mager
aus.
Spanien
wird von den neoliberalen Hardlinern aus ganz Europa immer wieder gerne als
Bespiel für Budgetdisziplin zitiert. Was sie aber nicht dazu sagen, ist,
·
dass Spanien laut Eurostat nach
Lettland die höchste Einkommensungleichheit in Europa aufweist[2].
Es ist deshalb auch kein Zufall, dass seine Inhaftiertenquote nach den
baltische Staaten die höchste Europas (160 pro 100.000 Einwohner) ist[3].
·
dass die soziale Ungleichheit in
keinem anderen europäischen Land zwischen 2006 und 2010 so schnell angestiegen
ist wie in Spanien;
·
dass in den letzten Jahren jedes
Jahr fast 100.000 Familien ihre Wohnung verloren haben, weil sie die Hypothek
nicht mehr bezahlen können;
·
dass 22% der Familien unter der
Armutsschwelle leben, also mit weniger als 7.800 Euro im Jahr auskommen müssen
und dass 580.000 Familien überhaupt gar kein reguläres Einkommen haben. Es ist
eine »allgemeine, intensive und chronische Armut« (Caritas), die sich vor allem
in der Extremadura und den Kanarischen Inseln schnell ausbreitet.
Charakteristisch
für die spanische Situation ist nicht so sehr, dass die Arbeitslosigkeit hoch
ist, sondern dass sie schon solange anhält. Die Zahl der offiziell
registrierten Arbeitslosen ist zwar im Januar 2012 auf fast 5,3 Mio. bzw. fast
23% geklettert. In den letzten 25 Jahre hat sie aber insgesamt drei Mal die
Schwelle von 22% überschritten. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt sogar 48%.
Das sind fast schon nordafrikanische Verhältnisse. 2007, kurz vor dem Kollaps
des Volksimmobilienkapitalismus, erreichte sie ein historisches Tief von 8%,
was Zapateros Wahlsieg von 2008 erklärt. Das heißt aber auch, dass die
Arbeitslosenquote in Spanien seit 1980 nie unter 8% gelegen hat. Das Problem
ist also strukturell.
Das
auf privater Akkumulation fußende Wirtschaftssystem, damit die spanische
Unternehmerklasse, sind also nicht in der Lage, mit der seit Mitte der 1980er
Jahre anhaltenden monetaristischen Politik genügend Arbeitsplätze zu schaffen.
Die verschiedenen Arbeitsreformen sowohl der PSOE wie der Konservativen haben
immer wieder versucht, dass Problem der Arbeitslosigkeit durch Flexibilisierung
der (äußeren) Arbeitsmärkte zu lösen. Die Folge war und ist eine schnelle
Zunahme der befristeten Arbeitsverträge, was aber, wie sich jetzt erneut
herausstellt, wenig zur Lösung des strukturellen Problems beigetragen hat.
Zwei
aggressive Schübe einer »inneren Landnahme« (Rosa Luxemburg/Klaus Dörre[4])
haben die Lage auf dem Arbeitsmarkt teilweise entspannt, ohne dass dadurch
nachhaltige Entwicklungsimpulse freigesetzt werden konnten: Die »Zerstörung«
war groß, aber nicht besonders »schöpferisch« (Schumpeter).
In
den 1980er Jahren hat dazu die rapide Erschließung lokaler
Wirtschaftskreisläufe durch die von der EU finanzierte Transportinfrastruktur
beigetragen. Ein weiterer wesentlicher Faktor war die Landwirtschaftspolitik
der EU mit ihre Bevorzugung der großen Landwirte und der Zerstörung der
traditionelle Landwirtschaft. Hunderttausende Arbeitskräfte, die früher in
handwerklichen Unternehmen und in der kleinen landwirtschaftlichen Betrieben
aktiv waren, fanden Arbeit in neugegründeten Klein und Mittelbetrieben, die
sich allmählich in kontinentale Produktions- und Logistiksysteme einfügten, die
zum großen Teil in die Hände deutscher, französischer und britischer Konzerne
kamen. Staatliche Unternehmen wurden geschlossen oder privatisiert, teilweise
nachdem sie kurz zuvor ausländische Investoren verkauft worden waren[5].
Nach
dem Mauerfall also Anfang der 1990er Jahre veränderte sich die Geografie der
europäischen Investitionen. Vor allen deutsche Investoren setzten auf eine
Ostexpansion. Die Wirtschaftskrise in Spanien, die der deutschen Vereinigung
folgte, ließ die Arbeitslosigkeit auf das historische Hoch von 24,1% klettern.
Allerdings war es nicht mehr möglich zurück zu traditionellen bzw. auf lokale
Märkte ausgerichteten und somit nachhaltigeren Konsum- und Produktionsformen
zurückzukehren: Die EU hatte wesentlich dazu beigetragen das Land zu
modernisieren, aber im Sinne der Interessen des europäischen (Gross-)Kapitals.
Der Energieverbrauch pro neugeschaffenen Wert ging Jahr für Jahr in die Höhe.
Spanien muss seitdem immer schneller wachsen, um die Arbeitsplätze zu schaffen[6].
Die Zeiten des halbwegs solidarischen Europas sind lange vorbei. Das Land wurde
auf Gedeih und Verderb von den Entscheidungen, die in den politischen und
wirtschaftlichen Zentren Zentraleuropas getroffen wurden, abhängig. Die Eliten
wurden unkritische Anhänger eines europäischen Projektes, das das Land in die
falsche Richtung trieb. Aber es hatte in den 1990er Jahren noch eine eigene
Währung, um durch Exporte Arbeitsplätze zu schaffen. Viele Exporte basierten
aber nur zum Teil auf heimischer Wertschöpfung, weil es sich oft nur um ein Hin
und Hertransportieren von Komponenten innerhalb internationaler – vor allem
europäischer – Konzerne handelte. Dennoch reichte diese Außenhandelsstruktur
aus, um statistisch eine mehr oder weniger gesunde Handelsbilanz vorzutäuschen.
Die
zweite große Welle der inneren Landnahme setzt mit dem Triumph der
konservativen Partido Popular (PP) in 1996 ein. Dieses Mal ging es um eine
schonungslose Finanzialisierung von Raum, Küsten, Städte, Landschaften und
architektonischen Kulturgütern[7],
die einen zweiten, noch größeren Schub der Zerstörung auslöste, ohne dabei auch
dieses Mal sehr viel »Schöpferisches« zu hinterlassen. Die Liberalisierung der
internationalen Finanzströme und die Schaffung des Euro zog reichlich
internationales Kapital an, das in Bauprojekten an den spanischen Küsten
investiert wurde. Die Bauindustrie beschäftigte indirekt bis zu 14% der aktiven
Bevölkerung – ein internationaler Rekord, der die Unfähigkeit des spanischen
Produktionssystems illustriert, im Rahmen der gegenwärtigen Eigentumsstrukturen
das Problem der Arbeit halbwegs unter Kontrolle zu bekommen.
Aber
der Bausektor schafft nur bedingt Neuwert und mit seinem Niedergang endeten
sowohl die Kapitalisierung der spanischen Haushalte – die zum großen Teil
Eigentümer ihrer Wohnung[8]
sind – wie der Arbeitsplatzboom in diesem Sektor[9].
Natürlich ist die Schwarzarbeit hoch (zwischen 22% und 23%), obwohl nicht so
hoch wie in Griechenland (28%) und Italien (27%)[10].
Sie wurde aber zum Teil recht aktiv gefördert wie man an der Reaktion der PP,
damals in der Opposition, auf das Projekt Zapateros ablesen kann, mehr als
500.000 illegale MigrantInnen, die vor allem von den spanischen Bauunternehmern
aktiv geworben wurden, zu legalisieren. Das Gewicht einer völlig außer
Kontrolle geratenen Bauindustrie, aber auch der Tourismus und viele KMUs, die
am untersten Ende der kontinentalen Produktions- und Logistiksysteme arbeiten,
schafft einen günstigen Boden, um billige Schwarzarbeit blühen zu lassen. Die
spanische Unternehmerklasse braucht eben auch die Steuerhinterziehung, um
Arbeitsplätze zu schaffen.
Hat
diese ganze Zerstörung wirklich nichts gebracht? Die zwei Schübe der inneren
Landnahme haben sehr wohl etwas gebracht. Sie haben zur Schaffung eines relativ
gut funktionierenden öffentlichen Gesundheitssystem beigetragen, das allgemeine
Bildungsniveau radikal angehoben, wichtige administrative Infrastrukturen
geschaffen, um die marode spanische Bürokratie zu modernisieren. Sie haben auch
dem nicht reichen Teil der älteren Bevölkerung eine würdige Existenz gegeben
und vor allem auch neue Emanzipationsmöglichkeiten für die spanische Frau
gebracht. Fast nichts davon ist der spanischen Unternehmerklasse zu verdanken.
Es waren der öffentliche Sektor und die Logik des Gemeinwesens, die
dahintersteckt, es war »die Politik«, die diese positiven Veränderungen bewirkt
haben, also all das, was jetzt mit der Ausrede der Krise zerstört wird.
Was
die spanische Bevölkerung nun mit einer Mischung aus Trauer, Wut und
Hilflosigkeit sieht, ist, dass dieser ganze »Fortschritt« in wenigen Monaten
den Bach runtergeht, während sie selbst auf einem großen Schuldenberg sitzt.
Was sie auch zur Kenntnis nehmen muss, ist, dass Europa, der politische und
kulturelle Bezugspunkt dieses Projektes der Zivilisierung eines in der
Vergangenheit nicht gerade friedlichen Zusammenlebens, nun der erbarmungslose
Demiurg seines Endes geworden ist.
Damit
ist aber die Hauptsache nicht erklärt. Die Frage, vor der jetzt wohl auch die
Griechen und die Portugiesen – zwei Länder die unter vergleichbaren
politischen Vorbedingungen einen ähnlichen Prozess der inneren Landnahme hinter
sich haben – in diesem Zusammenhang stehen, ist: Wie organisiert sich ein
soziales System, in dem traditionelle Lebens- und Produktionsformen schon
weitgehend zerstört sind, in dem aber die neuen Akteure – also die »neuen«
Unternehmer – immer wieder ihre Unfähigkeit bewiesen haben, eine halbwegs
sanierte Arbeitsgesellschaft zu schaffen, damit es möglich wird, die in den
demokratischen Verfassungen verankerten politischen und sozialen Verträge auch
zu erfüllen?. Bis zu welchem Punkt sind jene Verträge schon zerstört und wie
lange kann eine Gesellschaft diese Situation ertragen?
Die
akademischen Antworten zentraleuropäischer Provenienz sind nicht in der Lage,
diese Fragen überzeugend zu beantworten. Esping-Andersen, zum Beispiel,
sortiert die Wohlfahrtssysteme in »liberale« (marktorientiert), »konservative«
(familienorientiert) und »sozialdemokratische« (staats-orientiert)[11].
Die chronische Situation der Unterbeschäftigung auf dem spanischen Arbeitsmarkt
macht einen auf staatliche Umverteilung, also auf Steuern, beruhenden
»sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat« technisch unmöglich. Deshalb geht die
Einordnung »konservativ« oder »sozialdemokratisch« an der Sache vorbei. Die
Familiensolidarität ist eine wesentliche Stütze, weil sie eine partielle
Dekommodifizierung der Lebenslagen vieler Spanier möglich macht. Wenn die
Familie auch eine »alte« Institution ist, die in der Tat von Konservativen
politisch gemolken wird, darf sie nicht einfach dem »fortschrittlichen
sozialdemokratischen Staat« gegenübergestellt werden, ohne gleich auch auf das
Problem der Arbeitslosigkeit eine überzeugende Antwort zu geben.
Der
spanische – und sehr wahrscheinlich auch der portugiesische und griechische –
»Familienkommunismus«[12]
kann sowohl fortschrittliche wie konservative Werte reproduzieren. Die Familie
ist prägend nicht nur für die neuen und traditionellen Klein- und
Mittelbetriebe (siehe unten), sondern auch für wesentliche Teile des
fortschrittlichen Spektrums: für die roten ländlichen Milieus im Süden, für die
kommunitaristischen Kulturen im Baskenland und in ganz Nordspanien, und sogar
für die fortschrittlichen, professionellen großstädtisch-bildungsbürgerlichen
Milieus.
Eine
strukturelle Arbeitslosigkeit treibt das
»sozialdemokratische Wohlfahrtssystem« unvermeidlich in eine chronische
Staatsverschuldung, vor allem wenn man den Reichen die Steuer streicht, wie es
die Regierung Zapatero noch 2007 nach dem Motto »Es ist fortschrittlich Steuern
zu senken« (Zapatero dixit) gemacht hat. Nein: Die Staatsverschuldung ist gar
nicht so fortschrittlich, wie das bei Esping-Andersen anklingt. Auch eine auf
einem »Bastard-Keynesianismus« beruhende deficit-spending-Politik
im Namen des »sozialdemokratischen Wohlfahrtssystem« ist nicht so
fortschrittlich wie sich das anhört. Die spanischen Sozialdemokraten haben
dieses Missverständnis jahrelang genährt und dabei einen eleganten Bogen um das
Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit gemacht. Postmoderne und anderen
Theorien haben jahrelang diese Modernisierung legitimiert und in den
Universitäten und Massenkommunikationsmittel verbreitet. Sie haben dabei ein
Wunschdenken verankert, das einwandfrei in einen politisch korrekten
euroatlantischen Fetischismus hineinpasste. Eine realistische Bestandaufnahme
der Fortschrittmodelle war eben mit den (links?)-monetaristischen Dogmen des Felipe
González’ unvereinbar. In der Tat wurde Esping-Andersen eine schöne Professur
in Barcelona angeboten, von der aus er diese dem »realen Spanien« fremde
Modernisierungsstrategie aller Welt verkünden durfte und sogar als Modell für
andere politische »transiciones« Osteuropas hinstellte konnte.
Die
südeuropäische Wirklichkeit ist eine ganz andere. Die Staatsverschuldung ist
eine »tertiäre Umverteilung« von unten nach oben. Sie ist nichts anderes ist
als eine Umleitung von Steuergeldern, die im Neoliberalismus immer mehr von der
arbeitenden Bevölkerung aufgebracht werden, an eine Rentiersoberschicht. Sie
lebt im Falle Spaniens zu einem großen Teil im Lande selbst und kann ziemlich genau
identifiziert werden.
Wenn
es keine halbwegs funktionierende Arbeitsgesellschaft gibt, verwandelt sich das
»sozialdemokratische Wohlfahrtssystem« in einen Mythos. Oder besser: in die
Mystifizierung einer chronischen Überakkumulation, die, wie Jürgen Leibiger
sehr gut nachgewiesen hat, früher oder später die ganze Welt in eine
systemische Krise treiben musste[13].
Ohne funktionsfähige Arbeitsgesellschaft, und ohne ein steuerfinanziertes
Umverteilungssystem ist ein »sozialdemokratisches Wohlfahrtssystem« mit linken
Positionen nicht zu vereinbaren. Das »links«-monetaristische Projekt der
felipistischen und postfelipistischen PSOE, einen Wohlfahrtsstaat mit Finanz-
und Immobilienrente zu bezahlen, ist gescheitert, weil es scheitern musste. Milton Friedman, seine
neokonservativen Freunde und der common
sense haben damit recht bekommen: Die unregulierten Finanzmärkte sind mit Demokratie,
und schon gar nicht mit sozialer Demokratie, unvereinbar. Die große Koalition
von Felipe González bis Margaret Thatcher, die jetzt den Richter Garzón[14]
verurteilt hat, ist dahin.
Der
Versuch, sich ein zivilisiertes Zusammenleben von den Finanzmärkten und der
Immobilienspekulation bezahlen zu lassen, ist ideologisch die Folge einer
Entfremdung von der eigenen Wirklichkeit – inklusiv der eigenen, auch
republikanischen Geschichte. Politisch ist sie ist eine nordatlantische Antwort
auf den Versuch, in den entscheidenden 1980er Jahren nach dem Ende der
Franco-Diktatur einen postkapitalistischen Weg einzuschlagen. Etwas Ähnliches
wäre für Griechenland und Portugal zu sagen, zwei Länder, in denen genauso wie
in Spanien, Ende der 1970Jahren starke, hegemoniefähige kommunistische und
linkssozialistische Strömungen zumindest potentiell in der Lage waren, andere
Wege als die nordatlantischen zu beschreiten.
Die
Großzügigkeit mit der Westeuropa in diesen Jahren die innere Landnahme in
diesen Ländern durch Subventionen und Schnellstraßen gefördert hat, hat nicht
nur eine wirtschaftliche Erklärung (die Aufschließung der südeuropäischen
Märkte für zentraleuropäische Waren), sondern auch eine politische. Das
Programm der – stark von außen finanzierten – spanischen Sozialdemokratie war das
»sozialdemokratische Wohlfahrtssystem« zentraleuropäischer Prägung. Aber da die Schaffung einer
nachhaltigen Arbeitsgesellschaft ein Eingreifen in die heilige private
Produktionssphäre erfordert hätte, war es de facto unrealisierbar. Das
sozialdemokratische Programm bestand im Aufbau einer neuen sozialen,
institutionellen und politischen Infrastruktur, die langfristig nur durch
Staatsschulden, also durch die soziale Rettung der Rentieroberschicht, also des
historischen Feindes des sozialen und politischen Fortschritts, zu haben war.
Das rituelle Zweiparteiensystem, das oft durch Absprachen im klassischen Stil
des 19. Jahrhunderts gestützt wurde, war sowohl Voraussetzung wie auch Folge
des Projektes. Hinzu kommt natürlich auch der Versuch, diese Länder in die
NATO-Strategie einzubinden.
Dass
dieses Projekt langfristig eine Schuldenökonomie, den politischen Klientelismus
und die Korruption nähren musste, war vorauszusehen. Beide sind zwar im
Falle Griechenlands evident geworden, machen sich aber auch in Spanien seit
über zwanzig Jahre breit, vor allem in den armen, subventionierten Regionen des
Südens und in den von der konservativen Partido Popular regierten Zentren des
Immobilienkapitalismus. Die von außen anachronistisch anmutende
»Europafeindlichkeit« von Parteien wie der portugiesischen PCP und der
griechischen KKE, die sehr tief in traditionellen, zum Teil sogar »vormoderne«
Milieus verankert sind, hat hier eine wichtige und verständliche Erklärung.
Diese
bornierte Art und Weise mit dem »sozialdemokratischen Wohlfahrtssystem«
umzugehen, hat zwei Folgen für die Linken: erstens haben es die
Konservativen leicht, es zu kritisieren, ja sogar aggressiv auszulachen;
zweitens kommt dabei die Rentiersoberschichten, die nach den Diktaturen Südeuropas
sehr geschwächt waren, zu einer neuen Machtposition, der demokratische Staat gerät somit mehr
und mehr in ihre Hände.
Der Wahlsieg der Partido Popular
Die
PP hat nicht nur die Parlamentswahlen im November 2011, sondern auch den
»Realismus«-Diskurs gewonnen. Man muss aber deutlich zwischen »politischer« und
»sozialer« Wirklichkeit unterscheiden. Denn die PP hat zwar die absolute
Mehrheit der Parlamentsitze, aber nur 30% der Stimmen der Wahlberechtigten auf
sich vereinigen können, 2,2% weniger als Zapatero bei den letzten
Parlamentswahlen und nur 0,8% mehr als die PSOE 2008. Das ist also kein
»erdrutschartiger Sieg«, kein »blauer Tsunami«, wie es die Presse oft
darstellt, sondern eher ein Pyrrhussieg: Es gibt zur Zeit einfach keine
sozialen Mehrheiten in Spanien für die Politik der PP.
Etwas
ähnliches kann über die Wahlergebnisse im Baskenland gesagt werden, wo die
nationalistische Linke nach dem ETA-Waffenstilstand zwar viele Sitze erobert
hat, aber weniger Stimmen bekommen konnte als 1993. Die 15-M Bewegung, die
spanische Version der »Empörten-Bewegung«, hat keine bedeutende Wahlenthaltung
oder hohe Zahl weißer Stimmzettel bewirkt, wie es einiger ihrer anarchistisch
orientierten Aktivisten forderten.
Sowohl
die PP wie die Nationalisten haben es geschafft, ihre in früheren Wahlen
eroberten Positionen zu halten, diese aber nicht ausweiten können. Ganz
wesentlich ist die Stimmenthaltung der sozialistischen WählerInnen, vor allem
in Katalonien. Nur so konnten die Nationalisten die lokale Regierung stellen.
Nicht wenige Stimmen aus den populären Klassen sind zwar in den Sog rechter
(teilweise extreme) Diskurse geraten, aber das rote Stimmenreservoir ist immer
noch sehr groß. Der Tabelle 1 kann man einiger Daten entnehmen, die die
Entwicklung der rechten Hegemonie in ganz Spanien zum großen Teil erklären.
Der
wirkliche politisch-hegemoniale Durchbruch der Partido Popular kam um das Jahr
2000 und zwar in den Provinzen des Ostens und Südostens (Murcia, Alicante,
Almería und Málaga). Hier haben die wesentlichen politischen Veränderungen
stattgefunden, die sich zu denen in den Provinzen Zentral- und Nordspaniens
addierten, in denen die Konservativen schon immer die Mehrheiten hinter sich hatten.
Man sieht, dass es gerade die Provinzen sind, in denen die Selbstständigen und
die – vor allem kleinere – »Gesellschaften mit beschränkter Haftung« überdurchschnittlich
zugenommen haben, in denen die PP 2008 -im extremen Fall von Murcia- nicht weniger als 61% der Stimmen bekam
und 2011 sogar noch mehr (64,2%). Hier wie auch in den restlichen Provinzen ist
die Zahl der Selbstständigen und der (vor allem kleinen) GmbHs
überdurchschnittlich gewachsen.
Interessant
ist vor allem die Provinz Málaga. Málaga ist traditionell eine linke Provinz
gewesen. Die Stadt Málaga schickte in den 1930er Jahren den ersten
kommunistischen Abgeordneten nach Madrid und Anfang der 1990er Jahre war
Izquierda Unida (Vereinigte Linke) hier die meist gewählte Liste. Die
Stimmzunahme der PP in der ganzen Provinz (+12% zwischen 1996 und 2008) ist
genau doppelt so hoch wie in Gesamtspanien. In den vier Provinzen Málaga, Almería, Murcia und Alicante haben die
Konservativen vor allem auf Kosten von Izquierda Unida zugelegt, auch wenn die
Stimmen nicht immer direkt von IU zur PP gegangen sind, sondern teilweise über
die PSOE. In den Parlamentswahlen von 2011 hat es die PP sogar auf fast 50% der
Stimmen in der Provinz Málaga gebracht – ein noch vor einigen Jahren undenkbares
Ergebnis.
Die makroökonomische und soziologische
Grundlage dieses Rechtsrucks ist der Volksimmobilienkapitalismus, der eine
Schar von neuen Klempnern, Installateuren und Instandhalter geschaffen hat, die
sich zum großen Teil aus Ex-Arbeitslosen rekrutiert haben und früher links
gewählt haben. Während in Gesamtspanien die Zahl der traditionellen
Kleinunternehmer, Selbständigen ohne Angestellte und mithelfenden
Familienangehörige zwischen 1995 und 2007 (kleine Ladenbesitzer, Handwerker,
Kleinbauern) wegen der Liberalisierungspolitik der 1980er und 1990er Jahre
(»erste innere Landnahme«) zurückgegangen ist, hat ihre Zahl in den
Kronprovinzen des Immobilienkapitalismus zugenommen.
Die
physisch-räumliche Basis dieser zweiten inneren Landnahmen ist die
beeindrückende Schönheit der natürlichen und kulturellen Ressourcen der
spanischen Küsten, die die neoliberale Deregulierung dem großen Geld
aufgeschlossen hat. Ein wesentlicher Teil dieser Gelder, die massiv in
spanische Immobilien investiert wurden, floss nach dem Platzen der dot com-Blase und dem Attentat in New York vom
11.9.2001 aus aller Welt nach Spanien, und trieb die Immobilienspekulation noch
einmal wesentlich in die Höhe.
Die
Entwicklung in den vier genannten Provinzen illustriert den strukturellen
Rechtsruck in ganz Spanien und entschlüsselt das politische Projekt der PP. Der
Wertewandel und die Lebensformen, die sich hinter der Herausbildung dieser
neuen vor allem Kleinunternehmerklasse
versteckt, ist enorm. Es handelt sich aber nicht um mehr oder weniger
innovative, exportorientierte KMUs wie in Deutschland oder in den Niederlanden,
sondern um Unternehmen mit wenig Wertschöpfung, deren Einkommen aber durch die
Spekulation nach oben getrieben wurde, und die damit, im Unterschied zu den
traditionellen Selbständigen und Kleinunternehmer, auf (destruktive) neoliberal
und kosmopolitisch ausgerichtete Modernisierung setzten.
Mehrere hunderttausend Menschen aus
populären Milieus haben auf diese Weise mit dem Partido Popular einen Aufstieg
erlebt und mit dem »sozialdemokratischen Wohlfahrtssystem«, den Gewerkschaften
und einer zivilisierten, regulierten Modernisierung – zum Beispiel auch der
Arbeitsmärkte – nicht (mehr) viel am Hut. Zunächst, weil sie auf sich selber
angewiesen sind, und es weiterhin sein wollen bzw. müssen. Dann, weil sie sehr
genau wissen, dass der Wohlfahrtsstaat mit Steuern bezahlt werden muss, die sie
zum großen Teil selber aufbringen müssen. Und zuletzt, weil ihr kultureller
Horizont nicht mehr die politische Allgemeinheit, sondern die mikroökonomische
Parzelle ist. Die einzige Möglichkeit, diese neue Klasse
dem Konservatismus zu entreißen, ergibt sich aus ihrer konfliktreichen
Beziehung zu den privaten Banken, die jetzt keine Kredite mehr hergeben und
hohe Zinsen verlangen, und ihre Einbindung in einen breit angelegten und
öffentlich finanzierten sozialen und ökologischen Umbau des Landes.
Der paradoxe Realismus der PP besteht jetzt darin,
dass er erstens darauf verweist, dass sich die PSOE – ähnlich wie die
US-Demokraten – auf Gedeih und Verderb für die Banken als Verwalterin der
leistungslosen Einkommen der Rentier-Oberschicht engagiert hat, um ihr
»sozialdemokratisches Wohlfahrtssystem« zu finanzieren. Dieses
Projekt – so jetzt die PP, aber auch ihre neue soziale Basis von Selbständigen
und kleinen Unternehmer - sei
weder nachhaltig noch realistisch. Zweitens werde die Verschuldung, die für die
Umsetzung eines sozial-ökologischen Umbaus nötig wäre, von der EU blockiert. Um
einen neuen überzeugenden Realismus zu gewinnen, scheint ein Bruch mit dem
Neoliberalismus mehr oder wenig unabdingbar. Ob ein Bruch mit dem Euro auch
unabdingbar ist, hängt im wesentlichen von der Entwicklung in Brüssel, also in
Berlin und Paris ab.
Die
Frage bleibt, wie denn die Partido
Popular die versprochenen Arbeitsplätze schaffen will, ohne den aktuellen
neoliberalen Rahmen zu sprengen. Sie hat nicht allzu viel Zeit dazu. Mit einer
Arbeitslosigkeit, die Ende 2012 die sechs Millionen-Marke erreichen kann (fast
ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung), kann es in kurzer Zeit zu einem
dramatischen Zusammenbruch ihrer Hegemonie in den politisch entscheidenden
Milieus kommen. Die Antwort der PP lautet: Durch die Ingangsetzung eines
(dritten) Prozesses der inneren Landnahme. Dieses Mal geht es um die
kapitalistische Aufschließung derjenigen sozialen Bereiche und Territorien, die
vom »sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat« in den letzten zwanzig Jahren ausserhalb
des Marktes geschaffen wurden, aber eben nicht durch Arbeit, sondern
(finanzkapitalistisch) durch Schulden finanziert. Das Projekt soll nicht nur
eine Reduzierung der Staatschulden und somit den Frieden mit den Finanzmärkten,
mit »Europa« und dem Neoliberalismus herbeiführen, sondern vor allem den
öffentlichen Raum, die »politische Gesellschaft« drastisch reduzieren und
darüber eine stabile, langfristige, konservative Hegemonie in Spanien schaffen.
Die Privatisierung öffentlicher Güter, die Aufhebung von Baurestriktionen in
Küsten, Naturlandschaften und historischen Städten und Stadtvierteln, die
Liquidierung von sozialen-, umwelt- und kulturellen Standards, die seit den
1980er Jahren den hässlichen Franco-Kapitalismus zivilisiert hatten, soll jetzt auch neue Wachstumsimpulse schaffen. Das
heisst, dass die »zweite
innere Landnahme« des Immobilienkapitalismus wiederaufgelebt wird. Dennoch ist den meisten klar, dass die Zeiten des Immobilienbooms nicht zurückkehren werden auch wenn einige, bis jetzt noch geschützte Flächen, Küsten und
Gebäude den Reichen und Investoren aus aller Welt in Form von Golfplätzen,
exklusive Wohnanlagen usw. angeboten werden könnten (In Griechenland werden
schon ganze Inseln verkauft).
Die
wesentlichen Wachstumseffekte verspricht sich die Partido Popular deswegen
heute von der Privatisierung des Gesundheits- und Erziehungswesens, auch wenn
diese Absicht nicht klar ausgesprochen wird. Es ist fraglich, ob auch diese
dritte Landnahme wirklich Wachstumsimpulse freisetzen wird. Die Partido Popular könnte somit in Kürze in eine ähnliche Realismusfalle geraten wie die PSOE mit ihrem »sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat« der
Arbeitslosigkeit. Die politische Strategie der PSOE besteht jetzt darin, die
unausgesprochenen Absichten der PP offen zulegen, ohne dabei aber überzeugende
Argumente zu liefern, mit denen sie ihr eigenes Realismusdefizit (siehe oben)
überwinden könnte.
Veränderte politische Landschaft
Die
bedeutenste, zum Teil erdrutschartige Veränderung der politischen Landschaft
nach den Parlamentswahlen 2011 besteht in der Zunahme der Stimmen für die Unión
Progreso y Democracia (UPyD). Es handelt sich um eine ideologisch nicht klar
definierte Gruppierung, die radikal antinationalistisch auftritt und zu der Leute wie der Nobelpreisträger
Mario Vargas Llosa gehören. Rosa Diaz, ihre baskische Gründerin, profilierte
sich als Mitglied der PSOE mit ihrer fast hysterischen Opposition gegen jede
Art von Verhandlung mit der ETA.
Inzwischen
hat sich diese Partei in den professionellen, städtischen, zum Teil
fortschrittlichen Milieus breitgemacht. Viele sind (nicht immer linke)»Jakobiner«:
Sie wollen einen starken, zentralisierten Staat anstelle der vielen kleinen,
unter sich konkurrierenden autonomen Regierungen, die für die Bevölkerung oft
nicht viel bringen. Auf der anderen Seite gibt es auch kulturell aufgeschlossene,
aber in Wirtschaftsfragen recht radikale Liberale, unter ihnen Mario Vargas
Llosa, die dieser Gruppierung eine ideologische Ambivalenz geben.
Zum einen gibt es in UPyD »liberale« Kreise, die recht antietatistisch
auftreten. Zum anderen wählen nicht wenige, manchmal sogar progressive, Beamte
und öffentliche Angestellte diese Partei, die sich als Vertreterin einer neuen
Staatsraison gibt. Das zunehmende Gewicht der UPyD ist teilweise auf die Fehler
der Linken zurückzuführen, die trotz vieler Warnsignale in den neuen
professionellen Milieus nie richtig Fuß fassen konnte oder wollte. Denn gerade
in vielen Bastionen der Linken (Südspanien und in den Grosstädten) hat die UPyD
beachtliche Stimmergebnisse erzielt (fast 5% in Gesamtspanien und 10% in
einigen Provinzen wie Madrid).
Und die Linke?
Izquierda
Unida (Vereinigte Linke) hat es bei den Parlamentswahlen im letzten Jahr auf
fast 7% der Stimmen gebracht. Ein Wahlbündnis mit lokalen linken Listen hat
dazu beigetragen, aber vor allem eine Offenheit gegenüber den sozialen
Bewegungen und anderen linken Parteien. Die »Tische für die Zusammenkunft von
Bürgern und Soziale Aktion« (»Mesas Ciudadanas de Convergencia y Acción
Social«), eine linke Bürgerbewegung, die sich für die Zusammenkunft aller
anti-neoliberal gesinnten Menschen, Parteien und Initiativen auf dezentraler
Ebene einsetzt, haben in einigen Regionen wie Aragón und Murcia eine
Vermittlerrolle gespielt und dazu beigetragen, dass gemeinsame Listen
aufgestellt wurden. Ein junges Mitglied der »Tische« und von Attac, sehr aktiv
in der Indignees-Bewegung, ist für Málaga ins Parlament gekommen und erfrischt
die institutionelle Szene mit feurigen, qualifizierten Reden.
Dennoch
kann man nicht von einem Durchbruch reden, vor allem wenn man den Ernst der
sozialen und politischen Lage berücksichtigt. Die großen, potentiellen
anti-neoliberalen Stimmen sind die der PSOE-WählerInnen, die sich dieses Mal
enthalten haben (ca. 400.000). Nach den Wahlen hat die Führung der PCE
(Kommunistische Partei Spaniens), die heute das Sagen in der IU hat, ihre
aufgeschlossene Haltung aufgegeben nach dem Motto »Jetzt haben wir Eure
Stimmen, jetzt könnt ihr wieder nach Hause und uns alleine lassen«. Eine
andere, strukturelle Entwicklung ist die Unfähigkeit der IU, große Teile der
fortschrittlichen städtischen Professionellen einzubinden, die teilweise zu
UPyD übergegangen sind. Nur in Oviedo und Asturien konnte der Arzt Gaspar
Llamazares einen Zuwachs von UPyD vermeiden und sich in diesen Milieus
behaupten oder gut Fuß fassen. Ein politischer und organisatorischer Rahmen, um
die professionellen Schichten in ein anti-neoliberales Projekt einzubinden,
konnte bis jetzt noch nicht geschaffen werden.
Nicht
gelungen ist auch dieses Mal der Versuch, in Spanien eine substantielle
Unterstützung für eine grüne Partei nach deutschen Muster zu gewinnen. Der
Spitzenkandidat der Grünen war der Ex-Präsident von Greenpeace Spanien, Juan
López de Ugalde. Trotz massiver ökonomischer Unterstützung durch die deutschen
und französischen Grünen, hat seine sektiererische und zum Teil auch persönlich
schwierige Einstellung viele mögliche WählerInnen abgeschreckt. Die
städtischen, immer (leicht) grünen und wohl situierten Professionellen haben
anscheinend schon mit der UPyD genug.
Was
jetzt ansteht, ist der mehr als notwendige Versuch, rote, grüne und violette
Konvergenzen unter den anti-neoliberal Gesinnten zu suchen und zu fördern. Die
Hauptverantwortung dafür liegt bei der Izquierda Unida, wo einige führende
Funktionäre der gefährlichen Versuchung erliegen könnten, unrealistische
Alleinvertretungsansprüche in der alternativen Linken zu erheben. Angesichts
der Komplexität der spanischen Gesellschaft und der politischen Landschaft
scheint das Format einer »Mosaiklinken« (H.J. Urban) die einzig realistische
Option, eine Annäherung zwischen den verschiedenen – realen oder möglichen –
anti-neoliberalen Kräften, also der Gewerkschaftsbewegung, der linken
politischen Organisationen und den aktiven BürgerInnen aufzubauen. Ganz
wesentlich für das Zustandekommen einer solchen Konstellation wird auch die
Fähigkeit der linken Sozialisten sein, in eine Plattform zusammenzufinden und
einen breiteren, offenen Rahmen nach dem Muster der französischen Front de
Gauche mit anderen Anti-neoliberalen verschiedener Provenienz zu finden.
[2] Eurostat 2012. (http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&plugin=1&language=en&pcode=tsisc010)
[3] R. Walmsley: World Prison Population List. Kings College London. (
http://www.kcl.ac.uk/depsta/law/research/icps/downloads/wppl-8th_41.pdf)
[4] F. Dörre: Landnahme und soziale Klassen. Zur Relevanz sekundärer
Ausbeutung, in: H. J. Thien (Hrgs): Klassen im Postfordismus. Münster,
Westfällisches Dampfboot 2010.
[5] A. Fernández Steinko: Izquierda y republicanismo. El salto a la
refundación. Madrid, Akal 2010.
[6] Ebd.
[7] Siehe D. Harvey: The New
Imperialism. Oxford, Oxford University Press 2003
[8] Während
Mietwohnungen in den 1950er Jahren noch die Norm darstellten, waren in den
1970er Jahren bereits über 60% der Häuser und Wohnungen in Privatbesitz. Diese
Quote stieg bis Anfang der 1990er Jahre auf ca. 80% und erreichte 2007 87%,
während die entsprechenden Anteile in den USA und Großbritannien nie über 70%
stiegen. Zudem besitzen etwa sieben Mio. spanische Haushalte zwei oder mehrere
Wohnungen. Der kontinuierliche Anstieg der Immobilienpreise und eine nie da
gewesene Kreditexpansion ermöglichten ein historisch einmaliges Wachstum des
Konsums der (Haus-) Eigentümer, die im spanischen Fall die überwiegende
Mehrheit der Bevölkerung darstellen.
[9]
Zwischen 2000 und 2007 expandierte der Arbeitsmarkt in Spanien – sowohl wegen
des boomenden Baugewerbes als auch aufgrund des Binnenkonsums – akkumuliert um
36%, mehr als je in Spanien und stärker als in allen anderen EU-Ländern. Und
dies bei Reallöhnen, die um 10% fielen, so dass die Integration von sieben Mio.
neuen Arbeitskräften die Lohnsumme effektiv nur um 30% steigen ließ. (siehe
:Isedro Lopez/Emmanuel Rodriguez, Das spanische Modell in: PROKLA 166, 113ff.)
[10] Schneider, F.: Shadow Economies and Corruption All Over The World: What Do We Really Know?.
Institute for The Study of Labour. Discussion Paper nº 2315, Bonn 2006.
Abzuladen in: http://ftp.iza.org/dp2315.pdf
[11] G. Esping Andersen: The Three Words of Welfare Capitalism. Cambridge
(UK), 1990
[12] Er ist
ein entscheidender Faktor, um zu erklären, weshalb die SpanierInnen mit der
hohen Arbeitslosigkeit (über-)leben können. In Spanien ist die Familie eine
sehr wichtige solidarische Institution. Seit den 1980er und 1990er Jahren hat
sich in den Familien so etwas wie eine funktionelle Harmonie eingestellt. Das
heißt, trotz aller Konflikte muss diese Institution gut funktionieren. Es gibt
inzwischen zwei Millionen Familien in Spanien, in denen niemand einer richtigen
Arbeit nachgeht. Die wenigen, teils befristeten Jobs werden in einen Topf
geworfen. Was reinkommt, wird nach den Bedürfnissen verteilt. Der zweite Grund
ist die immens hohe Eigentumsquote. Mit Ausnahme von Neuseeland ist der Anteil
an Familien mit Immobilienbesitz nirgends so hoch wie in Spanien. Aktuell sind
es fast 90% (siehe Fußnote 8). Das hat paradoxerweise etwas mit der sogenannten
Sozialpolitik der Franco-Ära zu tun. Franco hatte praktisch kein Geld, es gab
kein Steuersystem, mit dem so etwas wie ein Wohlfahrtsstaat hätte bezahlt
werden können. Deswegen wurde entschieden, Eigentum zu schaffen und damit den
Familien zumindest eine gewisse Sicherheit zu geben. Das hat dazu geführt, dass
sogar in den Krisenzeiten der 1980er und 1990er Jahre die Eigentumsquote noch
angestiegen ist. Der Arbeitsmarkt ist strukturell prekär. Das einzige, was die spanischen Familien langfristig haben sind die Eigenheime.
[13] J.
Lieber: Bankrotteure bitten zur Kasse. Mythen und Realität der
Staatsverschuldung. Köln, 2011
[14] Siehe
A. Fernández Steinko: »Der Fall Garzón und die Scheidelinie der spanischen
Demokratie« in: Sozialismus 7/8/2010
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